Lernen weiterentwickeln

Als Pädagogen und Bildungsverantwortliche sind wir der Zukunft verpflichtet - in einer Art und Weise, die seinesgleichen sucht.
Das bedeutet, dass wir Entscheidungen und Handlungen so gestalten, dass sie positive Auswirkungen auf die Zukunft haben. In der Bildung geht es darum, Verantwortung für kommende Genrationen zu übernehmen und nachhaltige, zukunftsorientierte Lösungen zu finden.

An dieser Stelle denken wir über das Lernen nach.

Die Kanti Enge in Zürich geht diese Herausforderung anders an. Sie entwickelt den Akzentlehrgang zum Campus weiter, wo Lernende viel mehr den eigenen Lernprozess mitgestalten können. Es ist ein tolles Beispiel dafür, dass verschiedene Entwicklungsstadien gleichzeitig an einer Schule leben dürfen. Schulentwicklung bedeutet auch Lernkulturentwicklung - Lernen als Prozess braucht unterschiedlich lang.
Die Kanti Enge hat 6 Lehrpersonen aus unterschiedlichen Fachschaften in unsere Weiterbildung gesandt.
(Den Download als pdf findet man am Ende des Interviews.)


Die Kanti Enge geht neue Wege – parallel zum gewohnten Schulbetrieb

Die Kantonsschule Enge in Zürich geht neue Wege, um den Unterricht weiterzuentwickeln und junge Menschen besser auf ihre Zukunft vorzubereiten. Parallel zum herkömmlichen Schulbetrieb startete diesen Sommer der ‘Akzent Campus’. Dieser Lehrgang legt besonderen Fokus auf das Thema Nachhaltigkeit und Zusammenarbeit und den Kompetenzerwerb.
Ursina Gloor, die Projektleiterin des Campus, ist gemeinsam mit Anne Bovet Klassenlehrperson der neuen Klasse. Sie geben Auskunft über dieses spannende Projekt.

Interview: Rolf Helbling


Was war der Anstoss, den Akzent Campus an der Kantonsschule Enge weiterzuentwickeln?

Ursina: Der Akzent Lehrgang existiert bereits seit 15 Jahren. Nach einer Evaluation wurde deutlich, dass die Schüler:innen einen roten Faden vermissen, der sich durch ihre gesamte Ausbildung zieht. Obwohl es Modultage zu übergeordneten Themen gab, war der reguläre Unterricht ähnlich wie in den Regelklassen. Auch für uns Lehrpersonen beschränkte sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf diese Modultage. Das Bedürfnis nach Weiterentwicklung des Lehrgangs war also sowohl bei den Schüler:innen als auch bei uns Lehrpersonen vorhanden. Die Schulleitung ermutigte uns, die Chance zu ergreifen und etwas Neues zu planen. Wir besuchten andere Schulen, absolvierten den CAS ‘Empower Future Learning’, liessen uns inspirieren und spürten die Offenheit der Schulleitung für innovative Ideen.
Anne: Das Ausmass der Entwicklung hat uns überrascht. Wir hätten nie gedacht, dass wir so weit gehen würden. Wir haben an vielen Stellschrauben gedreht, und plötzlich entstand der Campus.

Ursina Gloor, Projektleiterin und Anne Bovet im Schulzimmer, bevor es neu eingerichtet wurde.
Neu eingerichtetes Schulzimmer, kurz vor dem Bezug.



Warum gibt es während 5 Wochen keine Prüfungen?

Ursina: In den fünf Wochen vor der Testwoche können sich die Schüler:innen auf die Inhalte konzentrieren, ohne sich bereits auf die nächste Prüfung vorzubereiten. Während der Testwoche werden dann in den Fächern, die in der vorherigen Phase stattgefunden haben, Bewertungen in Form von Noten erfolgen. Die Lehrpersonen haben dabei die Freiheit, die Art der Prüfung festzulegen. In der sechsten Woche findet kein regulärer Unterricht statt, aber die Unterrichtszeit bleibt bestehen. So können die Schüler:innen auch zu mündlichen Prüfungen aufgeboten werden. Vor Semesterbeginn besprechen wir in einer Koordinationssitzung, welche Lehrperson in welcher der drei Phasen eine Prüfung oder ein Projekt durchführt, um eine ausgewogene Verteilung zu gewährleisten.
Anne: In den fünf Wochen vor der Testwoche verzichten wir bewusst auf Prüfungen, um uns auf formative Rückmeldungen zu konzentrieren, die nicht in die Endnote einfliessen. Ich freue mich auf den Austausch bei der Koordinationssitzung, um zu sehen, wie verschieden Lehrpersonen prüfen und wie die Leistungsbewertung aussieht. Heute findet selten ein solcher Austausch über gewählte Prüfungsformate statt, in Zukunft möchten
wir das fachübergreifend diskutieren.


Der Akzent Campus bietet den Schüler:innen viel Freiraum, z. B. die Möglichkeit, Lektionen abzuwählen, um morgens später zu kommen oder abends früher zu gehen.
Hand aufs Herz, das wird bestimmt ausgenutzt!

Ursina: Wir möchten herausfinden, wie die Schüler:innen diesen Freiraum nutzen, und entsprechend reagieren. Beim Campus-Projekt haben wir für die Lernzeit zwei Räume zur Verfügung: ein Klassenzimmer und ein Arbeitszimmer. Wir möchten, dass die Schüler:innen lernen, mit diesen Freiheiten umzugehen und den Wert eines guten Lernklimas zu schätzen. Eine Lehrperson begleitet die Lernzeiten und unterstützt die Schüler:innen bei der Erreichung ihrer Ziele.

Anne: Bei der Orientierungsveranstaltung haben wir den Schüler:innen mitgeteilt, dass sie nicht zwingend die Voraussetzungen für diese Art des Lernens mitbringen müssen. Wir bieten die Möglichkeit, diese Kompetenzen
an unserer Schule zu entwickeln, und begleiten die Lernenden dabei.
Ursina: Es wird sich zeigen, wie viel individuelles Coaching die Lernenden benötigen, deshalb haben wir bewusst zwei Klassenlehrpersonen
zugeteilt, um diesem Prozess das nötige Gewicht zu geben. Ausserdem
besteht bei jedem Promotionsentscheid die Möglichkeit, in eine Klasse nach dem traditionellen Modell zu wechseln. Gemeinsam mit den Schüler:innen werden wir uns auf dem Campus weiterentwickeln.

Wie verändert sich die Rolle der Lehrperson?

Anne: Die Veränderungen sind stark fachabhängig. In Chemie kann ein Experiment nicht einfach überall stattfinden. Im Unterricht wird das Lernen vermehrt zwischen den Lernenden selbst stattfinden. Im Sprachunterricht kann ich bestimmte Themen wie Grammatik gut durch Videos, Flipped Classroom oder KI-Tutoren auslagern.
Ursina: Für Fächer, in denen der Aufbau für das spätere Verständnis besonders wichtig ist, sehe ich eine grössere Herausforderung. Die einzelne Lehrperson entscheidet, wie Lernprozesse gestaltet werden. Wir sind alle gefordert, das schulische Lernen weiterzuentwickeln.

Ihr baut mit dem Akzent Campus bereits an der “Schule der Zukunft” an der Kanti Enge. Gibt es weitere Visionen und Pläne?

Ursina: Mit dem Akzent Campus wollen wir Erfahrungen sammeln und gemeinsam mit der Schulleitung die Vision weiterentwickeln. Die Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität” (WEGM) wird bald
konkret, und der Campus wird davon sicherlich beeinflusst sein. Politische Faktoren wie grössere Klassen, mehr Fächer und begrenzter Schulraum spielen ebenfalls eine grosse Rolle. Wir möchten den Schulraum optimal nutzen und das Lernen im Unterricht weiterentwickeln. Leider hindern uns beispielsweise
feuerpolizeiliche Bestimmungen daran, Arbeitsplätze im Flur des ersten Stockwerks einzurichten.
Anne: Wir betrachten den Campus als ein lebendiges Labor, das uns wertvolle Erfahrungen für die Einführung der WEGM liefert.

Ist der Akzent Campus ein Nischenangebot für die KEN, oder könnte in Zukunft nur noch so gelernt werden?

Ursina: Mit dem Campus möchten wir eine neue Unterrichtsorganisation testen, die einen Anteil selbstorganisierten Lernens ermöglicht. Bei der Ausschreibung wussten wir nicht, ob dieses Angebot überhaupt eine
Nachfrage hat. Mittlerweile wissen wir, dass die Plätze in der Klasse ausgebucht sind.

Ihr habt mit fünf Kolleg:innen den CAS ‘Empower Future Learning’ absolviert. Welchen Einfluss hat diese Weiterbildung auf den Akzent Campus?

Ursina: Der CAS hat uns inspiriert und unterstützt. Wir haben Methoden, Modelle und Prozesse gelernt, die uns bei der Neuausrichtung des Campus geholfen haben. So haben wir die Neuausrichtung des Campus mit Design Thinking entwickelt und starten mit dem Prototypen im Sommer. Besonders
die CAS Themen der pädagogischen Haltungen und Rollen hat mich beeinflusst. Wir wurden sensibilisiert für die Faktoren, die beim Lernprozess eine bedeutende Rolle spielen. Im Unterricht profitiere ich von einem erweiterten Methodenrepertoire für nachhaltiges Lernen. Von den sechs Lehrpersonen, die am CAS teilgenommen haben, sind fünf im Campus-
Projekt involviert, drei davon in der Projektgruppe. Die gemeinsame Basis wurde im CAS mit vielen aktiven Prozessen zu Lernen, Haltungsentwicklung, Rollen, Change, Leistungsnachweisen oder Organisationsentwicklung
gelegt. Diese gemeinsame Erfahrung im CAS hat die Weiterentwicklung des
Campus stark unterstützt. Die Schulleitung spürt unsere innovative Energie und gibt uns den notwendigen Freiraum. Als Lehrperson, die dieses Projekt leitet, erlebt man Momente der Selbstreflexion und des Zweifels. In solchen Momenten ist das Vertrauen und der Rückhalt der Schulleitung besonders wertvoll. Wir dürfen auch Fehler machen – diese Fehler- und Lernkultur stärkt uns.
Anne: Wir haben im CAS ein grosses gegenseitiges Vertrauen und viel Respekt aufgebaut. Mir hat die Weiterbildung eine Legitimität gegeben, ich weiss worüber ich spreche und konnte wertvolle Kompetenzen aufbauen und weiterentwickeln. Ich gehe mit grossem Vertrauen in das Campus-Projekt
und bin sicher, dass es uns voranbringt.

 



Wie unterscheidet sich der Akzent Campus vom “traditionellen” Unterricht?

Ursina: Ein Viertel der Unterrichtszeit ist individuelle Lernzeit. Da der Lehrplan für die Schüler:innen des Campus derselbe ist, wird der Pflichtstoff in individuellen Aufgaben aufbereitet. Als Lehrperson suchen wir geeignete Inhalte und überlegen uns passende Formate, damit die Lernenden die Inhalte selbstorganisiert erarbeiten können. Die Schüler:innen werden dazu angeleitet, selbstorganisiert zu arbeiten und einzuschätzen, wann sie Unterstützung von Lehrpersonen benötigen. Die individuelle Lernzeit von 25 % können sie nach und nach freier gestalten. Steht im Stundenplan individuelle Lernzeit, können sie in der ersten Klasse pro Woche maximal 4 Lektionen abwählen und diese beispielsweise auch für ein Sporttraining nutzen. Das Ziel des Campus ist es, dass die Schüler:innen am Feierabend und am Wochenende keine schulischen Aufgaben mehr erledigen müssen.

Interessierte Schüler:innen müssen sich mit einem Motivationsschreiben bewerben. Was sind die Überlegungen dafür?

Anne: Hier gibt es zwei Überlegungen: Zum einen möchten wir, dass sich Eltern und Kinder zusammensetzen und die nötigen Kompetenzen wie Eigenverantwortung besprechen. Zum anderen möchten wir sicherstellen, dass sich die Schüler:innen wirklich mit dem neuen Schulmodell auseinandersetzen und bereit sind, diese Verantwortung zu übernehmen. Eine einfache Anmeldung mit einem Kreuz in einem entsprechenden Feld hätte uns nicht gereicht.
Ursina: Da der Akzentlehrgang an der Kanti Enge bereits seit 15 Jahren besteht, möchten wir auch bewusst darauf hinweisen, dass es sich um etwas Neues handelt. Ein Semester wird in drei Phasen à 6 Wochen unterteilt.

 
Übersicht der Phasen mit den 5 Wochen Lernzeit, dem Fächerschwerpunkt und Anteil Selbstlernzeit.
 
Die Unterrichtszeit und die selbständige Lernzeit ist ausgewogen verteilt.
 
Das Arbeitszimmer fordert die Lernenden auf, aus bekannten "Lern-"Mustern auszubrechen.
 
Nischen und Flächen im Flur auf den Etagen dürfen aufgrund von Vorschriften nicht genutzt werden.
 

Die Schulleitung der Kanti Enge ermöglichte sechs Lehrpersonen aus unterschiedlichen Fachschaften die Teilnahme am CAS ‘Empower Future Learning’. Hat diese Weiterbildung Auswirkungen auf die Entwicklung
der Lernkultur an der Schule?

Ursina: Der Wandel der Lernkultur an einer Schule ist ein schrittweiser Prozess. Der Campus, der im Rampenlicht steht, wird von Lehrpersonen, die nicht beteiligt sind, unterschiedlich wahrgenommen. Traditioneller Unterricht wird in der Regel weniger hinterfragt. Der gesamte Campus repräsentiert
eine sichtbare Entwicklung der Lernkultur, während dies bei traditionellen Schulstrukturen eine grosse Herausforderung darstellt.
Anne: Wir haben mit freiwilligen Lehrpersonen einen “Learning Circle” gestartet (eine Methode des Workplace Learning), der bei den Teilnehmenden auf positive Resonanz stiess. Einige Lehrpersonen waren erstaunt, dass wir kleine Schritte planten, anstatt ein grosses Projekt zu lancieren. Andere wiederum warten ab, was die WEGM genau verlangt.


Herzlichen Dank für diesen spannenden Einblick!

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